Sehr gutes Ex. - Am Haiku interessiert mich nicht, Symbole des Zen und der japanischen Kultur zu importieren. Und die Regeln sind zwar ein wichtiger Rahmen, vergleichbar dem vorgegebenen, vorgew�ten Papierformat f�r eine Zeichnung, aber, beispielsweise: wenn Sil-bengef�ge und Rhythmus zusammenstimmen, freue ich mich, wenn nicht, hat der Rhythmus das letzte Wort. Am Haiku interessiert mich besonders: zwei Bilder treten in Spannung, die in einem dritten aufgehoben wird (aber nicht aufgel�st); mitunter, besonders schwierig, sind es auch bildlose Bewegungen und Kl�e. Der Vorgang ist dem der Elektrizit�exakt analog, zwischen den Polen Plus und Minus entsteht ein Stromsto�dann, wenn jemand den potentiellen Kontakt vollzieht. Dieser Jemand ist der aktive Leser, aktiv wie der Hausmusiker, der Partituren nicht nur liest, sondern probt. Nicht Impression noch Aha-Effekt, sondern Nachwirkung ist das erste Kriterium f�r ein Haiku. Formal ein Zellkern, wo jedes "der" oder "und" noch z�t in geschw�iger Zeit. Thematisch die M�glichkeit, Natur sich zu n�rn als auch Bedeutungsmomente aus dem Alltagszu- und -abfall herauszuholen. Und drittens: das Haiku entstammt einer Zeichen- und Bilderschrift und war oft kalligraphisches Signal auf Rollbildern. Wenn heute bildende Kunst und Musik bei den ohnehin wenigen Interessenten mehr Aufmerksamkeit beanspruchen k�nnen als Lyrik, so liegt das zu einem nicht unwesentlichen Teil an der Unsinnlichkeit der "Bleiw�ste" (wie die Drucker das Schrift,bild" nennen), kaum unterscheidbar von "Schriftverkehr" und "Druckerzeugnissen". Die Haiku wurden von 1975 bis 1980 in einen langen, schmalen Blindband eingetragen. Warum nicht einfach eine Auswahl daraus treffen und in Druck geben, statt das Arbeitsbuch mit Ortsangaben, Daten, allen Korrekturen 1:1 zu reproduzieren? Weil nicht Haikuanthologie, sondern Transkription das Thema ist, TransSkript. Erscheinungen transkribieren, mit eigener Hand, in die Muttersprache - einige wenige, weitaus die meisten Erscheinungen bleiben unformuliert; Manuskripte ins Reine �bertragen = in Norm, in Lettern �berSetzen - die meisten bleiben ungedruckt; andere Schrifttr�r und vorgefundene Schriftst�cke �ber-Schreiben - einige wenige, die meisten bleiben ungenutzt, die Welt ist voll, wir k�nnen sie h�chstens (noch) �ern: ist es nicht naiv, immer wieder ein wei�s leeres Blatt zu nehmen, als warte die Welt herrlich wie am ersten Tage auf unsere ��rungen? Und schlie�ich die Arbeit dem Leser �berschreiben auf sein Konto. Denn die in Satz gegebenen Formulierungen sind nun nicht unbedingt die st�sten Momente, sie sind Lesebeispiele, Lesehilfen, immer untergeordnet dem sichtbaren rhythmischen Ablauf des Buches; es ist aus der Mitte konzipiert, l�t spiegelbildlich nach beiden Seiten und klingt in den Au�nseiten in andere M�glichkeiten von �erschreibung aus. Wer sich einlesen will, wird aus den "unver�ffentlichten", Notiz bleibenden viele herauslesen k�nnen und vielleicht eine ganz andere Auswahl, was �bertragen werden soll, treffen (mir jedenfalls ist es verdammt schwer gefallen, aus 5-7 Haiku auf einer Seite nur eines "ans Licht" ziehen zu d�rfen, weil die Konzeption es so verlangte). Herauslesen: jeder, der einen intellektuellen Beruf hat, mu�zuviel lesen, ich auch. Dennoch halte ich die Handhabe von B�chern in mittelalterlichen Kl�stern f�r ideal, wo Lesen als Erraten und Entr�eln verstanden und ge�bt wurde, langsam und bed�tig. Bed�tig hei� urspr�nglich: zum Bedenken bereit, und lesen war urspr�nglich auslesen (lesbar und leserlich tauchen erst im 17. Jhdt. auf). Und es ist ein Klausurbuch. Geht man es von vorne an, nimmt die Entscheidungsfreiheit, dieser LesArt zu folgen oder nicht, mit den Seiten zu. In der Mitte v�llig alleingelassen, erf�t der Leser dann wieder langsam ansteigende Begleitung. Schl�ssel, Kreuze, Taktma�der Partitur sind vorgedruckt - wer l� seine Phantasie spielen, �bertr� die Bilder auf seine Erfahrungen und vice versa, �berschreibt mit seinen Bildern diese? (S. 84)